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Agile: Wohin des Weges?

Aug 28, 2023

Seit mehr als zwei Jahrzehnten erstellen wir Software mit agilen Ansätzen und entwickeln diese kontinuierlich weiter. Auch wenn sich die Qualität der Umsetzungen in den Organisationen unterscheidet, scheint agiles Arbeiten für viele selbstverständlich. Die Zielsetzung, in einer zunehmend komplexen und veränderlichen Welt die richtigen Lösungen zur richtigen Zeit zu schaffen, ist wichtiger denn je. Zeit also, den Blick zu weiten und zu schauen, wo wir stehen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden.

Das Thema agile Softwareentwicklung beschäftigt die IT-Branche schon lange. Als ich im Jahr 2006 im Rahmen eines internationalen Projekts zum ersten Mal Kontakt zu agilen Frameworks hatte, war die Zeit geprägt von phasenorientierten Vorgehensmodellen und Gantt-Charts. Projekte wurden detailliert durchgeplant und der Ampelstatus in regelmäßigen Jours fixes gemeldet. Viele Projekte liefen prima bis kurz vor dem Termin der Fertigstellung. Dann wurde meist alles rot, das Budget wurde aufgestockt und es wurden Task Forces gegründet, um die Probleme zu beseitigen. Meistens war das verbunden mit großer Unzufriedenheit, mit Misstrauen und Schuldzuweisungen. Expertentum stand hoch im Kurs, und gelernt wurde in der Freizeit. Insgesamt war die Situation eher unbefriedigend. Klar, Software haben wir am Ende meist auch geliefert, aber die Umstände, unter denen das geschah, waren für Kunden und Lieferanten eher unerfreulich. Auch wenn das überzeichnet ist, dürften sich in dieser Beschreibung viele wiederkennen. Für mich war insbesondere Scrum ein Augenöffner, war es doch genau das Puzzleteil, das fehlte, um effektiv und effizient Softwareprodukte herstellen zu können. Die Methode zur Technik. Wow! Seitdem lässt es mich nicht mehr los.

Ein Blick in die Vergangenheit: Das Agile Manifest

Das Agile Manifest [1] existiert bereits seit 2001. Als die ersten Projekte begannen, agil zu arbeiten, erfuhren sie meist Verwunderung, nicht selten auch Ablehnung. Das ist nachvollziehbar, da agiles Arbeiten in vielen Aspekten deutlich anders und ungewohnt war. Zu Beginn dominierten Fragen wie „Geht das überhaupt?“ oder „Ist dieser Hype bald vorbei?“ Diese Fragen waren oft Ausdruck der Hoffnung, dass sich das Thema bald von selbst erledigen würde und man so weitermachen könnte wie bisher. Und die Hoffnung war nicht ganz unberechtigt, da die IT von Moden getrieben ist und die Industrie immer wieder neue Themen für die Vermarktung braucht. Viele Hypes erreichen nie das Plateau der Produktivität und verschwinden dann wieder in der Versenkung.

Wer den neuen Themen aufgeschlossen gegenüberstand, fand in neuen Frameworks starke Innovation und Inspiration. Zu einer Zeit, in der klassisch gemanagte Projekte nicht selten einen problematischen Verlauf nahmen, war der Boden fruchtbar für Neues.

Es gab viel zu entdecken. Mit Scrum, Kanban, Lean, DevOps und Design Thinking seien nur einige wichtige Vertreter genannt. Einfach erklärt, aber schwer gemacht. Neue Praktiken, Prinzipien und Werte wollten gelernt und verinnerlicht werden. Dabei musste so manches aus dem Rucksack der Erfahrungen entfernt und durch Neues ersetzt werden. Es entstanden Organisationen, wie beispielsweise ScrumAlliance oder Scrum.org, die den Themen mehr Struktur verliehen und Zertifizierungen anboten. Zu Beginn waren Rollenbeschreibungen wie Scrum Master oder Product Owner in Stellenausschreibungen noch selten zu finden. Aufgrund der steigenden Nachfrage setzten eine Kommerzialisierung und Professionalisierung ein, die bis heute andauern.

Wie sieht agiles Arbeiten heute aus?

Die eingangs genannten Fragen hört man heute nicht mehr. Zu oft wurden die Vorteile des iterativen und adaptiven Vorgehens bewiesen. Studien belegen regelmäßig die Leistungsfähigkeit agilen Arbeitens. Beispielsweise geben 89 Prozent der Befragten der Studie „Status Quo (Scaled) Agile“ der Hochschule Koblenz an, dass der Gewinn größer ist als der Aufwand [2]. Bei skalierten Ansätzen sogar 93 Prozent.

Damit ist agiles Arbeiten wohl im Mainstream angekommen. Mainstream bedeutet, dass ein Thema selbstverständlich geworden ist. Das Interesse lässt nach und der Wunsch, es explizit zu besprechen, nimmt ab. Agile ist Mainstream, genauso wie Java, genauso wie Autofahren. Hm!?

Vor kurzem bemerkte ein Kollege auf die Frage, ob wir im Team einen dedizierten Scrum Master benötigen, dass mittlerweile sowieso fast jeder Entwickler wüsste, wie es funktioniert, und ein Scrum Master daher unnötig wäre. Wenn es darum geht, Praktiken wie Stand-ups, Reviews oder Retros auf der Ebene einzelner Teams einzusetzen, ist das insbesondere bei Entwicklern wohl zur Selbstverständlichkeit geworden. Eingesetzt werden meist Frameworks wie Scrum, Kanban oder Kombinationen aus beidem. Regelmäßig lässt sich dabei auch Cargo Cult beobachten. Dabei werden agile Praktiken eingesetzt, weil man es eben so macht, und nicht, weil es im Kontext sinnvoll ist. Ist das dann agil?

Skalierung des agilen Arbeitens

Seit geraumer Zeit beschäftigen sich Organisationen damit, agiles Arbeiten zu skalieren, das heißt, mehr und größere Vorhaben mit agilen Praktiken zu bearbeiten. Dabei orientieren sie sich an Frameworks wie LeSS [3], Scrum@Scale [4], SAFe [5], Nexus [6] oder dem Spotify-Modell [7]. Alle diese Frameworks sind inspirierend und enthalten viele spannende Ideen und Anregungen für die eigene Skalierung.

Einfaches Kopieren der beschriebenen Ansätze führt aber kaum zum Erfolg. Zu unterschiedlich sind die Erfahrungen, Prägungen, Erfolgsrezepte und mitarbeitenden Menschen in den Organisationen, um sie durch ein einheitliches Modell zu organisieren. Am Beispiel Spotify wird das deutlich. Das Spotify-Modell ist attraktiv, da es interessante Konzepte verwendet und leicht verständlich ist. Jedoch markiert es lediglich einen Zeitraum in der Entwicklung von Spotify. So, wie es beschrieben ist, wird es auch von Spotify nicht gelebt [8].

Dass der Weg zu agilem Arbeiten nicht leicht ist, erkennen wir auch an Zuschreibungen aus Projekten wie Zombie-Scrum, FlaccidScrum, ScrumBut, WaterScrum, Fake oder Dark Agile. Diese weisen auf oberflächliche Implementierungen hin, bei denen agile Praktiken angewendet, Prinzipien und Werte aber oft nicht gelebt und berücksichtigt werden. Dabei wird vernachlässigt, das agiles Arbeiten oft einen grundlegenden Kulturwandel bedeutet, der für Organisationen sehr herausfordernd sein kann. Auch der sogenannte agil-industrielle Komplex trägt möglicherweise dazu bei, dass Implementierungen nicht gelingen. Der Begriff entstand in Anlehnung an den Begriff des militärisch-industriellen Komplexes, der ein Verhalten von Institutionen und Beratungsunternehmen beschreibt, die aus Gründen der Profitsteigerung versuchen, selbst Nachfrage zu erzeugen. Der Verkauf von Dienstleistungen ist dabei wichtiger als die Lösung echter Kundenprobleme. Auch das führt zu oberflächlichen Implementierungen.

Business Agility

Interessanterweise ist agiles Arbeiten in den meisten Organisationen immer noch primär im Bereich der Entwicklung anzutreffen. Diese agilen Inseln sind oft schnell und flexibel. Dadurch, dass sie eingebettet sind in nicht agile Prozesse und Wertströme mit Engpässen und entsprechenden Wartezeiten, werden die Ziele der Agilität auf Ebene der Organisation häufig nicht oder nur unvollständig erreicht. Das zu ändern, ist Ziel der sogenannten Business Agility. Business Agility beschreibt die Fähigkeit ganzer Organisationen, sich an veränderliche Rahmenbedingungen anzupassen. Folgt man dem „2021 Business Agility Report“ [10] ist die Reife noch nicht sehr ausgeprägt. Ein Wert von 5,0 auf einer Skala von 1 bis 10 bedeutet, dass gerade das Laufen gelernt wird. Von Mainstream ist das noch weit entfernt (Abb. 1).

Im Kern geht es beim Thema Agilität um die Veränderung der Organisationskultur [11]. Erwartungsgemäß tun sich größere Organisationen damit schwerer als kleinere, da sie eine längere Geschichte mit sich herumtragen.

Agility Report

Abb. 1: 2021 Business Agility Report

Was kommt

Bevor wir Hypothesen über die Zukunft anstellen, lässt sich festhalten, dass die agile Bewegung bisher enormen Einfluss auf die Art genommen hat, wie heute Software entwickelt wird. Vieles ist gelungen und hat zur Verbesserung von Produkten und Dienstleistungen sowie der Zufriedenheit von Entwicklern bei ihrer Arbeit beigetragen (Kasten: „Warum agil?“).

Warum agil?

Agiles Arbeiten ist attraktiv und erstrebenswert, da es zwei zentrale Ziele adressiert: erstens die Beweglichkeit von Organisationen am Markt und damit verbundene Wettbewerbsvorteile, zweitens die Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Je nach Studie unterscheiden sich die Beschreibungen und Gewichtungen beider Faktoren. Beispiele sind Schnelligkeit am Markt und Mitarbeiterzufriedenheit [10], Optimierung der Produkteinführungszeit und Attraktivität als Arbeitgeber [2], Verbesserung der Fähigkeit, mit wechselnden Prioritäten umzugehen, und die Verbesserung der Teamproduktivität [9]. Das erste Ziel gewinnt in Zeiten wachsender Komplexität und Volatilität immer mehr an Bedeutung. Agiles Arbeiten bietet eine Möglichkeit, in diesem Umfeld erfolgreich zu sein. Beide Ziele bedingen und stärken sich gegenseitig und erzeugen im Idealfall einen eskalierenden Regelkreis. Eine Win-win-Situation sowohl für Organisationen als auch für Mitarbeitende.

Was wir heute erleben, ist eine Häufung krisenhafter Situationen: Finanzkrise, Coronakrise, Klimakrise, Energiekrise, Demographiekrise und so weiter. Oft sind wir davon überrascht und daher unzureichend vorbereitet. Wir sind Menschen, das ist normal. Denn obwohl wir versuchen können, uns durch vorausschauendes, szenariobasiertes Denken auf mögliche Ereignisse vorzubereiten, lassen sich insbesondere Effekte, die durch Krisenüberlagerung (Polykrisen) entstehen, kaum vorhersehen. Diese Situation bezeichnet man als VUCA, was so viel bedeutet wie Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz. Der Begriff entstammt dem United States Army War College und diente dazu, die Welt nach Ende des Kalten Krieges zu beschreiben [12]. Inzwischen stellt er ebenfalls eine zentrale Triebfeder für den Trend zur Agilisierung dar.

Während der Begriff VUCA vor nicht allzu langer Zeit noch eher abstrakt wahrgenommen wurde, drängt er sich seit der Coronakrise mit Macht in das Bewusstsein und die Erlebniswelt vieler Menschen. Das Verständnis dafür wächst, warum es wichtig ist, agil zu sein. Was können wir tun, wenn ständig alles in Bewegung ist und wir uns immer weniger auf die Planbarkeit der Zukunft verlassen können? Genau, selbst beweglich sein, um uns schnell an veränderte Rahmenbedingungen anpassen zu können. Das gilt für Individuen genauso wie für Organisationen. Und genau darum geht es auch bei der Agilität. Sie hilft uns, in einem Umfeld von Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben und sogar gestaltend tätig zu sein. Wir können davon ausgehen, das agile Organisationen besser mit der Coronakrise fertig werden als klassisch organisierte. Erste Studien zeigen in diese Richtung. Der „2021 Business Agility Report“ [10] fragte nach der Zustimmung für die Aussage: „Business Agility hat einen überragend unterstützenden Einfluss beim Umgang mit Covid“. 80,6 Prozent stimmen zu, 0 Prozent widersprechen (Abb. 2). Agilität scheint wichtiger als je zuvor.

Business Agility

Abb. 2: Zur Frage „Business Agility hat einen überragend unterstützenden Einfluss beim Umgang mit Covid“

Der Kern des agilen Arbeitens

Manche agile Frameworks bauen aufeinander auf. Beispielsweise basieren LeSS und Nexus auf Scrum. SAFe basiert auf Scrum und Kanban und Flight Levels auf Kanban. Daneben gibt es eigenständige Bewegungen und Frameworks, wie DevOps, Design Thinking, Modern Agile oder Lean. Und obschon es eine Vielzahl hervorragender agiler Frameworks gibt, ist Agilität nicht mit diesen gleichzusetzen. Bei näherem Hinsehen stellen wir fest, dass alle einen sehr ähnlichen Kern aus Werten und Prinzipien besitzen. Dieser Kern ist es, der das Wesen der Agilität ausmacht. Abbildung 3 zeigt wichtige Konzepte der bekanntesten agilen Frameworks.

Zentrale Konzepte

Abb. 3: Zentrale Konzepte

Das Schwungrad des agilen Arbeitens

Das vermutlich wichtigste Konzept und zentrale Schwungrad ist die stetige Verbesserung, also Inspect and Adapt, auch als Kaizen oder Sense and Respond bezeichnet. Nicht umsonst ist es eine der Säulen in Scrum. Es ist so einfach wie einleuchtend. Ein Vorgehen, das die eigene Verbesserung eingebaut hat, kann sich aus sich selbst heraus erneuern und sich an die jeweiligen Kontexte anpassen. Damit das weiter gelingt, gilt es stärker als bisher, eine lernende und experimentierfreudige Organisation zu entwickeln. Dazu bedarf es ständiger Reflektion und kritischer Kontroversen, eingebettet in einen Rahmen psychologischer Sicherheit [13]. Das gilt außerhalb der Entwicklung auch für alle Bereiche der Organisationen wie Marketing, Vertrieb oder Betrieb und betrifft Geschäftsmodelle, Produkte, Design, Code, Architektur und Prozesse gleichermaßen.

Evolvierbarkeit bzw. Wandelbarkeit kennen wir auch aus dem Bereich Clean Code [14] in Bezug auf die Codebasis und Architektur. Es geht darum, flexibel zu sein, und die Fähigkeit zu erlangen, sich schnell auf sich ändernde Rahmenbedingungen einstellen zu können. Das kann beispielsweise bedeuten, ein Produkt, das am Markt nicht erfolgreich ist, zeitnah aus dem Portfolio zu nehmen, um dadurch gebundene Kapazitäten für neue Initiativen zu gewinnen. Oder Technologien aufzugeben, die nicht flexibel genug sind, um neue Produkte in kurzer Zeit zu entwickeln.

Innovation in der agilen Arbeit

Um in der VUCA-Welt bestehen zu können, werden die Faktoren Beweglichkeit und Innovationsfähigkeit immer wichtiger. Laut dem Global Innovation Index des WIPO [15] steht Deutschland im Bereich der Innovation auf Platz 10 und ist auch in Europa nicht unter den ersten drei. Noch drastischer zeigt es der „Digital Riser Report“ [19]. Hier fällt Deutschland in der G20-Gruppe auf den drittletzten Platz (Abb. 4).

Digital Riser Ranking

Abb. 4: Digital Riser Ranking G20

Laut der Studie fehlt es vor allem am Mindset. Wir haben es uns bequem gemacht. Im Bereich digitaler Infrastruktur und Produkte sind wir eher Konsumenten meist amerikanischer Produkte als Produzenten eigener Lösungen. Hier gibt es viel Potenzial und Handlungsbedarf, um die Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der Digitalisierung zu verbessern. Aktuelle Krisen führen uns vor Augen, dass es wichtig ist, Kreativität und eigene Antworten zu entwickeln und Abhängigkeiten zu reduzieren. Auch auf dieser Ebene kann mehr Autonomie die Handlungsfähigkeit verbessern.

So unerwünscht Krisen meist sind, so hilfreich können sie als Katalysatoren sein. Da Krisen vermutlich nicht weniger werden und sich gegenseitig überlagern, wird es immer wichtiger, Innovationsfähigkeit und Beweglichkeit zu entwickeln. Je höher die äußere Änderungsdynamik ist, umso mehr gewinnt das an Relevanz. Digitale Lösungen kombiniert mit agiler Kultur bieten dafür keine umfassende Lösung, aber sicherlich gute Ansätze, um damit umzugehen. Gerade für Organisationen mit starren Strukturen wird es zunehmend wichtig sein, sich zu verändern und mit Mut und Lernbereitschaft eine Kultur zu entwickeln, die schnelle Anpassung ermöglicht. Um die Menschen für die Veränderung zu gewinnen, ist ein Umfeld psychologischer Sicherheit [13] entscheidend.

Agiles Arbeiten: Enge Kooperation

Enge Zusammenarbeit von talentierten und produktiven Menschen ist ein Schlüssel, der in vielen Frameworks, beispielsweise Scrum, Design Thinking oder DevOps, betont wird. Im Zentrum stehen dabei cross-funktionale Teams, die sich ganzheitlich um einen Wertstrom kümmern, unterstützt von Plattformen, die von den Teams weitgehend selbst betrieben werden können. Domänenexperten arbeiten eng zusammen mit Entwicklern, UX-Designern, Ops und Anwendern der Produkte, die alle voneinander lernen. Bezeichnungen von Rollenkombinationen wie BizDevs, DevOps oder DevSecOps zeigen diesen Trend. Ansätze wie Service Safaris oder Dogfooding weisen ebenfalls in diese Richtung. Dabei entwickeln sich Organisationen mit IT-Abteilungen zunehmend zu Tech-Firmen, die digitale Produktentwicklung als ihre Kernkompetenz verstehen. Manche gehen den Weg der Transformation, andere versuchen es über Ausgründungen. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Innovation. Leadership wird wichtiger. Dabei geschieht Führung weniger durch Planung und Anweisung, sondern eher durch Inspiration, Motivation und Vorbild.

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Liberalisierung agiler Arbeit

Die Liberalisierung agiler Ansätze nimmt zu. Das basiert auf der Erkenntnis, dass Organisationen einzigartige Gebilde sind, die durch eine individuelle Kulturentwicklung geprägt wurden. Die genannten Umfragen [2], [9] zeigen, dass SAFe insbesondere in größeren Organisationen am häufigsten eingesetzt wird. SAFe ist verglichen mit anderen Frameworks deskriptiver. Die Wahl von SAFe könnte man so interpretieren, dass die Organisationen mit einer klassischen Unternehmenskultur eher deskriptive Frameworks bevorzugen, da es für sie schwieriger ist, liberalere Frameworks einzusetzen, bei denen es stärker darauf ankommt, durch Inspect and Adapt den eigenen „Way of Work“ zu finden. Darum wird es aber vermutlich stärker gehen. Agile Kultur von der Stange gibt es nicht. Ansätze wie Modern Agile [13], Liberating Structures [16] oder Sense and Respond [17] helfen den Mitarbeitenden einer Organisation, eine Kultur zu entwickeln, die schnelles Lernen und Adaption möglich macht und Innovation hervorbringt. Auch Sozialtechnologien wie die Soziokratie [18] beinhalten viele Angebote, beispielsweise zur belastbaren Entscheidungsfindung in selbstorganisierten Organisationen. Dabei findet jede Organisation ihren eigenen Weg, den man vielleicht als Custom Agile bezeichnen könnte.

Systemische Sicht auf agile Prinzipien

Oft agieren wir aus einseitigen Perspektiven heraus, beispielsweise wenn wir aus technischer Perspektive eine maximale Testabdeckung auf vielen Ebenen anstreben und dabei Redundanzen produzieren, die Kapazitäten binden und somit die Weiterentwicklung des Produkts verlangsamen. Oder wenn wir als UX-Designer im Sinne eines optimalen Nutzererlebnisses in unseren Entwürfen die technische Machbarkeit nicht berücksichtigen und so die Entwicklung verteuern. Oder wenn wir als Fachbereich ein Feature beauftragen, das kein Anwender braucht. Aus dem Design Thinking kennen wir die gleichberechtigte Einbeziehung der Dimensionen Mensch, Technologie und Wirtschaft. Innovation findet in der Schnittmenge dieser Dimensionen statt (Abb. 5) und ist immer ein Kompromiss.

Design-Thinking-Dimensionen

Abb. 5: Design-Thinking-Dimensionen

Systemisches Denken geht noch weiter und versucht, Kontexte ganzheitlich zu betrachten. Dabei werden Wechselbeziehungen zwischen Elementen eines Systems erfasst und in einem Systemmodell beschrieben. Durch die Beschreibung schaffen wir natürlich keine exakte Abbildung der Realität, aber eine gute Basis für Verständnis und Dialog. Abbildung 6 zeigt eine Näherung zum Zusammenhang zwischen kognitiver Last und Lieferergebnis. Kognitive Last beschreibt das Ausmaß mentaler Ressourcen, die zur Bearbeitung eines Systems aufgewendet werden müssen. Besonders in der Wissensarbeit ist das ein wichtiger Faktor.

Systemisches Modell zur kognitiven Last

Abb. 6: Systemisches Modell zur kognitiven Last

Ein Beispiel: Unser DevOps-Team kümmert sich neben der Entwicklung um die Bereitstellung des Produkts mittels einer Kubernetes Runtime. Das erhöht die kognitive Grundlast. Je mehr Fachlichkeit und Features von einem Team verarbeitet werden müssen, umso höher wird die kognitive Last. Je höher die kognitive Last, umso niedriger das Lieferergebnis. Je niedriger das Lieferergebnis, umso mehr parallele Arbeit wird gestartet. Eine eskalierende Schleife kommt in Gang, bei der das Lieferergebnis weiter sinkt. Zur Linderung wird der Automationsgrad der Tests erhöht. Das senkt einerseits die kognitive Last und erhöht sie andererseits dadurch, dass die Tests erstellt und gewartet werden müssen. Die Einführung von Frameworks kann den gleichen Effekt haben. Wir sehen an diesem Beispiel, wie eine systemische Sichtweise es uns ermöglicht, komplexe Zusammenhänge besser zu erfassen und zu diskutieren. Systemische Sichtweisen helfen uns ebenfalls, Wechselwirkungen von Polykrisen in den Blick zu nehmen und besser zu verstehen.

Systemische Ansätze werden für die digitale Produktentwicklung wichtiger. Innovation und Experimente in produktiven Umgebungen erfordern es, Risiken realistisch unter Einbeziehung vieler Einflussfaktoren einzuschätzen und auf dieser Basis schnelle Lieferstrategien zu entwickeln und Lernschleifen zu ermöglichen.

Agiles Arbeiten: Fazit

Wie es scheint, wird die Welt nicht einfacher werden. VUCA wird bleiben. Der Begriff Agile wird in Zukunft vermutlich eine weniger zentrale Rolle spielen, nicht zuletzt, weil das der Logik aller Industrietrends entspricht. Aufgrund der zunehmenden Komplexität und Unsicherheiten ist das Thema aber relevanter denn je. Es geht um Innovationsfähigkeit und die Fähigkeit zu schneller Veränderung. Die agile Community hat eine Vielzahl starker Techniken hervorgebracht, die uns helfen können, dabei besser zu werden. Insgesamt dürfte das Thema die Organisationsentwicklung also weiterhin maßgeblich beeinflussen. Das sind natürlich Thesen. Wird es wirklich so kommen? Wir wissen es nicht, die Welt ist komplex. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, das agiles Arbeiten in Zukunft noch wichtiger werden wird, da es uns hilft, mit den Herausforderungen der Zukunft konstruktiv umzugehen. Vermutlich noch weit über die IT hinaus.

Anmerkung Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Links & Literature

[1] Agiles Manifest: https://agilemanifesto.org

[2] Studie Status Quo Agile 2020 – Hochschule Koblenz: https://www.hs-koblenz.de/bpm-labor/status-quo-scaled-agile-2020

[3] LeSS: https://less.works

[4] Scrum@Scale: https://www.scrumatscale.com

[5] SAFe: https://www.scaledagileframework.com

[6] Nexus: https://www.scrum.org/resources/nexus-guide

[7] Spotify Modell: https://blog.crisp.se/tag/spotify

[8] Spotify doesn’t use the Spotify Model: https://www.jeremiahlee.com/posts/failed-squad-goals/

[9] 15th State of Agile Report: https://digital.ai/resource-center/analyst-reports/state-of-agile-report

[10] 2021 Business Agility Report: https://businessagility.institute/learn/2021-business-agility-report-rising-to-the-challenge/669

[11] Pleus, Wolfgang: „Agile Kultur. Teil 1: Einführung“; in: Windows Developer 1.2021; „Agile Kultur. Teil 2: Veränderung“; in: Windows Developer 2.2021

[12] Barber, Herbert: „Developing Strategic Leadership: The US Army War College Experience“, Journal of Management Development, Band 11, Nr. 6, 1992

[13] Modern Agile: https://modernagile.org

[14] Clean Code: https://clean-code-developer.de

[15] Global Innovation Index 2021: https://www.globalinnovationindex.org

[16] Liberating Structures: https://www.liberatingstructures.com

[17] Sense & Respond: https://senseandrespond.co

[18] Soziokratie: https://sociocracy30.org

[19] Digital Riser Report 2021: https://digital-competitiveness.eu/digitalriser/